Klaus Graubner arbeitet an freien fotografischen Projekten seit 1987. Seine Motive sucht er in den Städten, industriell geprägten Räumen, in denen sich menschliches, gesellschaftliches, individuelles Leben abspielt. Seine Problematik setzt bei den zeitbedingten Veränderungen des Lebens in diesen Räumen an. "Zeitorte" betitelt Graubner einige seiner Projekte. Seine Fotografie widmet sich dem sichtbaren Material, das kulturellen Wandel als Bewegung in Raum und Zeit sichtbar macht. Seine Fotografien zeigen Häuser Industrieanlagen, Straßenzüge, als ob es sich um Negativformen des Lebens handelt.

"Völklingen"

1993 beginnt Graubner seine Arbeit an einem fotografischen Projekt, das sich der saarländischen Stadt Völklingen widmet. Völklingen ist als Stadt schon ein extremes Bild kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels. Im neunzehnten Jahrhundert veränderte sich die Stadt von einem ländlichen Flecken zu einem gigantischen Eisen- und Stahlstandort. 1873 wurde die Völklinger Hütte errichtet. Weit über zehntausend Menschen beschäftigte die Hütte und machte aus der Stadt eine Monokultur des Arbeiterlebens. 1986 wurde das Eisenwerk stillgelegt, nachdem es noch zwanzig Jahre zuvor den höchsten Beschäftigungsstand seiner Geschichte erreicht hatte. Die Anlage wurde aber nicht abgebrochen. Das sichtbare Bild der Stadt hat sich nicht der kulturellen Veränderung angepasst. Das Werk steht seit Dezember 1994 als Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO und wird in weitgehend unveränderter Gestalt erhalten, ist aber als Institution in einen ihm fremden Zustand überführt worden, nämlich von einer Produktionsstätte in eine museale Einrichtung. In seiner unveränderten Gestalt wurde die Hütte in ein Institut der Erinnerung verwandelt. Aus den Zügen, die in Völklingen fast direkt in der Hütte halten, steigen nun keine Pendler mehr aus, die in der Hütte ihrer Arbeit nachgehen, es steigen vielmehr Menschen ein, die wegfahren, die anderswo arbeiten müssen, weil ihre Hütte zu einem Denkmal geworden ist. Der ökonomische Zusammenbruch des Werks führte wohl zu einer der schmerzhaftesten Veränderungen in der Geschichte der Stadt.

Diesem Ort mit seinem stillgelegten, entfunktionalisierten Eisenwerk nähert sich Graubner mit der Kamera, mit der Fotografie, die in der jüngeren Geschichte nur allzu häufig als Medium des individuellen aber auch des kollektiven Erinnerns charakterisiert wurde, mit der Fotografie als einer historischen Schwester der Eisenwerke, als technischindustriellem Medium des Sehens.

Klaus Graubner zeigt uns Bilder einer Stadt, die selbst zum Bild geworden ist. Die Entfunktionalisierung des Hüttenwerks ist Ausdruck einer zeitlichen Veränderung bei weitgehend gleichbleibender Gestalt. Eine vergleichbare Defunktionalität schlägt sich auch in den Bildtiteln Graubners nieder. Wenn auch die Fotografien dokumentationstauglich sind, verweigern die Titel eine dokumentarische Auskunft zur Funktion der Gebäude. Sie weisen lediglich auf die Zeit der Aufnahme hin und markieren das Interesse des Fotografen am zeitlichen Zustand des dargestellten Ortes. Die Bilder dienen nicht der Erklärung, der Erläuterung des Dargestellten, sie sind gleichermaßen funktionsfrei und selbstreferenziell ohne auf darstellende Qualitäten zu verzichten.

Angesichts des Erinnerungspotentials des Völklinger Hüttenwerks und der Fotografie an sich fragt man sich auch, woran man sich hinsichtlich der Bildmodi in Graubners Völklingen-Serie erinnert fühlt. Hochöfen und Schornsteine wurden in ihrer industriellen und technikeuphorischen Ästhetik in den zwanziger Jahren entdeckt. Es war die straight photography, etwa von Charles Sheeler, die Fotografie der neuen Sachlichkeit, etwa von Albert Renger-Patzsch, die die Schönheit der Industriemotive entdeckten. Auch in der russischen Fotografie der zwanziger Jahre wird die Industrialisierung des nachrevolutionären Landes in fotografischen Bildern gefeiert. Der zweite Weltkrieg mit seiner technisch bedingten Grausamkeit machte es für die Fotografie nach dem Kriege schwierig an die technische Euphorie der zwanziger Jahre anzuknüpfen, Der nicht nur hierzulande so bedeutsame Otto Steinert widmete sich auch der saarländischen Industrielandschaft. Unter Zuhilfenahme experimenteller Techniken schuf er allerdings Bilder, die eine psychologisch animierende Skepsis gegenüber den damals noch rauchenden Schloten widerspiegelt und Albert Renger-Patzsch widmete sich dem Industriemotiv nur noch als kommerziellem Broterwerb. Seinem inventarisierenden Zugriff auf die Welt verpflichtete sich aber seit den siebziger Jahren das Fotografenpaar Bernd und Hilla Becher. Es entstanden serielle Fotoreihen, die sich auch der Industriearchitektur widmen. Auch bei den Bechers hat die Industrie ausgedient und erscheint in ihrer entfunktionalisierten Schönheit mit einem skulpturalen Wert, indem die Motive unter immer konstanten Bedingungen aufgenommen und vom Kontext des Ortes isoliert werden. Die Tatsache aber, dass die Schornsteine der Becherschen Industrieanlagen nicht mehr rauchen, weisen auf einen zeitlichen Kontext der postindustriellen Ära des zwanzigsten Jahrhunderts hin. Während in den Völklingenbildern von Graubner der nachindustrielle Kulturwandel eine ebenso wichtige Rolle spielt wie im Werk der Bechers, zeichnet sich bei Graubners Arbeiten doch ein entscheidender Unterschied ab: Seine Sicht auf die Völklinger Eisenhütte legt es geradezu darauf an, den Kontext des Ortes sichtbar zu machen. Er isoliert die Industriemonumente nicht von ihrer Umgebung, sie führen kein Eigenleben. Graubner benennt die Wege, die ihn zu seinen Sichten führen. Straßenunterführungen mit abgeplatzten Fliesenverkleidungen, Tankstellenpreistafeln für Benzin tauchen in den Industrieszenarien des neunzehnten Jahrhunderts als Wegweiser der zeitlichen und örtlichen Bestimmbarkeit auf. Einblicke in Völklinger Wohnstraßen weisen, wenn sie auch menschenleer sind, auf die Lebenszusammenhänge hin, die mit der Hütte in Verbindung stehen. Gleichzeitig bieten uns großzügige Aufsichten aus enormen Höhen einen Überblick über die gigantischen Ausmaße der Anlage, die an die heroischen Sichten russischer Fotografen der zwanziger Jahre erinnern. Das technikeuphorische Pathos der neusachlichen Sicht bricht aber angesichts der Stilllegung der Völklinger Hütte zusammen. Das Zitat der neusachlichen Ästhetik führt bei Graubner zur Dekonstruktion ihrer Heroik. Das intakte neue Stahlwerk Völklingen taucht nur einmal in der Peripherie eines Panoramabildes auf. Der Schwerpunkt Graubners liegt deutlich auf der Spannung von Vergangenem und Gegenwärtigem. Handlungsanweisungen des ehemaligen Werkschutzes, die zu Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit aufrufen, sind in ihrer verblassten Erscheinung nur noch Beleg für eine Welt, die nicht mehr existiert, während in anderen Bildern das Design von Haltestellenschildern, Ampelanlagen und Brückenpfeilern die Gegenwart indizieren. Graubner setzt diese Elemente ein und verstellt mit ihnen die uneingeschränkte Sicht auf das Historische. Er verhindert damit eine falsche zeitliche Zuordnung seiner Aufnahmen und gleichermaßen eine Klassizisierung der dargestellten Objekte. Genau das aber erreichen die Bechers mit der Isolierung ihrer Industrieaufnahmen von dem Kontext des Ortes und der Zeit zugunsten einer skulpturalen Auffassung der Industriebauwerke.

Walter Banjamin bezeichnete die Fotografie als ein Medium, das der Bildaura verlustig wird. Die Fotografie verliert die der Kunst eigene ehrwürdige Ferne des Bildes von der Welt, so nah sie auch sein mag. Damit regte er zu einer der wesentlichsten Auseinandersetzungen um den Kunstcharakter der Fotografie an. Benjamins Aurabegriff bezieht sich auf das materiell existierende fotografische Bild. In der jüngeren fotografietheoretischen Auseinandersetzung wurde aber deutlich, dass der Fotografie eine enorme auratische Kraft zukommt, die weniger das fotografische Material betrifft, als vielmehr den fotografisch dargestellten Gegenstand. Die Fotografie vermag wie Siegfried Kracauer anhand der Starfotografie einer Filmdiva schon nachwies, nicht die Auratisierung ihrer selbst zu vollziehen, als vielmehr die Auratisierung der dargestellten Person zu einer anbetungswürdigen Kultfigur. Die Instrumente dazu liegen in der Inszenierung und der Isolierung vom zeitlichen und örtlichen Kontext. Dieselben Instrumente wenden die Bechers an, wenn sich ihre Industrieobjekte in der Fotografie von der Produktionsstätte zu skulpturalen Denkmälern transformieren. Die Isolierung vom Kontext führt zur Auratisierung; die Objekte werden in eine Ferne von ihrer Umgebung gerückt, eine Ferne, so nah sie auch sein mag. Klaus Graubner verzichtet in seiner Fotografie auf die auratische Betrachtung der Völklinger Hüttenwelt. Die Völklinger Hütte ist nämlich schon als Institution auratisiert. Als museale Einrichtung ist sie per Definition defunktionalisiert und befindet sich in einem autonomen Dasein, weit entfernt von ihrer früheren funktionalen Bestimmung. Klaus Graubner setzt den Betrachter in ein spannungsbestimmtes Verhältnis von auratischem Gegenstand und einem nichtauratischen fotografischen Sehen. Zeitliche Ferne und Nähe werden an einem fotografisch bestimmten Ort in ein sich konfrontierendes Verhältnis gebracht. Folgerichtig benennt Graubner die Position seiner Völklingenbilder als einen "Industriezeitort".

Roland Augustin
Saarbrücken, 1998

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